Ein Uhrwerk an Geschichten - 01 Tina
Nach langer, langer Zeit melde ich mich wieder mit einem neuen Projekt. Und zwar mit einer Kurzgeschichtenserie, die es als Hörgeschichte zum mitlesen auch auf meinem neu eingerichteten YouTube-Kanal gibt. (https://youtu.be/ylSVHqQH0XU?si=z-3qB3toVaMIePiP)
Der Grundgedanke ist eine Geschichtenserie aus zwölf Kurzgeschichten zu kreieren, die immer ineinandergreifen. Das heißt, die Charaktere nachfolgender Geschichten treffen sich oder beeinflussen sich sogar aktiv, obwohl sie einander nicht direkt kennen. Das soll verdeutlichen, wie sehr wir das Leben von anderen beeinflussen, auch wenn wir es vielleicht gar nicht beabsichtigen. Die Geschichten greifen quasi wie ein Uhrwerk ineinander. 
Einige Geschichten kennt ihr bereits, manche wurden leicht verändert um ins Konzept zu passen, aber viele sind auch ganz neu. Und weil ich Fantasy mag, gibts natürlich nicht nur Menschen als Charaktere.
Geplant ist es, jeden ersten Sonntag im Monat eine neue Geschichte hoch zu laden, das heißt in einem Jahr ist die Serie beendet.
                                            

In der ersten Geschichte geht es um das zwölfjährige Mädchen Tina. Sie liebt Bücher über alles, weshalb sie auch absolut nichts dagegen hat ihre Nachmittage bei ihrem Opa zu verbringen, der eine Bibliothek besitzt. Diese Figur ist vielleicht von allen die ich bisher habe die, die mir am ähnlichsten ist als ich so alt war. Auch wenn ich leider keinen Opa hatte, dem einen Bibliothek gehört hätte. Aber ich hätte auch am liebsten den ganzen Tag gelesen und die restliche Welt einfach ausgeblendet weil Schule halt einfach oft nicht so toll war. Und der Duft von Büchern in der Bibliothek und der Blick auf endlos viele bis oben hin volle Bücherregale ist etwas, dass immer noch eine sehr entspannende und beruhigende Wirkung auf mich hat. Und auch wenn lesen immer noch eines meiner liebsten Hobbys ist und es immer noch einfach schön ist, durch volle Bücherregale zu stöbern, habe ich mein Lesepensum seit der damaligen Zeit stark reduziert um auch in der wirklichen Welt (die ja auch nicht nur schlecht ist) wirklich zu leben. Vielleicht findet ja auch Tina noch zu diesem Punkt.
Viel Spaß beim Lesen von Teil 1 von Ein Uhrwerk an Geschichten, der Geschichte von Tina:
Die kleine Glocke bimmelte leise als Tina die Tür zur Bibliothek aufmachte. Sie atmete tief ein, nichts war so beruhigend wie der Duft von unendlich vielen Büchern. 
„Hallo Tina, Schätzchen. Heute schon früher Schluss?“, rief Tinas Großvater von hinter der Theke. Mit seiner Schildmütze, der Brille und den grauen Bart sah er genauso aus wie man sich einen Bibliothekar vorstellte.
„Hallo Opa. Ja, heute ist Lehrerkonferenz, hab ich doch gesagt.“ 
Tina ging zu ihm hinüber und lehnte sich an die Theke, inzwischen war sie groß genug um mit auf die Hände gelegten Kopf zu ihrem Opa hinunter zu sehen. Sie hatte es gehasst als sie noch so klein war, dass sie zu der kleinen Kindertheke gehen musste, um mit ihm zu sprechen. Jetzt nahm er seine Schildmütze ab und kratzte sich am Kopf, das tat er immer wenn er etwas verlegen war. 
„Ja, ja, stimmt. Hab ich wohl vergessen.“, murmelte er vor sich hin.
Tina lächelte, dafür liebte sie ihren Großvater. Er war ein absoluter Experte was Bücher und die fremden Welten darin anging, aber im echten Leben war er oft einfach ein bisschen verpeilt.
„Was gibt’s denn zu essen?“, fragte sie. 
„Nudeln mit Feta-Spinat-Soße. Steht aber schon im Kühlschrank. Hab ja nicht gewusst, dass du schon so früh kommst.“, er grinste sie verlegen an und Tina grinste zurück.
„Schon ok, mit fast dreizehn weiß ich ja schon wie man mit einem Herd umgeht“, sagte sie und zwinkerte ihm zu, „Aber die Schulsachen lass ich gleich da.“
Damit ging sie zu ihrem kleinen Schreibtisch beim Fenster hinter der Theke und ließ den schweren Rucksack auf den Sessel fallen. Seit sie zur Schule ging und ihre Eltern beide wieder Vollzeit arbeiteten, war das ihr „Arbeitsplatz“ geworden. Sie kam jeden Tag nach der Schule her und aß gemeinsam mit ihrem Opa in seiner Mittagspause bei ihm in der Wohnung über der Bibliothek, machte ihre Hausaufgaben an ihrem kleinen Schreibtisch hinter der Theke und dann war die Bibliothek ihr Reich. Sie konnte sich nichts Besseres vorstellen. Nur dass sie, seit sie auch Nachmittag Schule hatte, alleine essen musste, weil essen in der Bibliothek natürlich streng verboten war. 
So ging sie durch die Bibliothek nach hinten zu dem kleinen Innenhof, von wo aus die Treppe zu Opas Wohnung führte. Im Vorbeigehen ließ sie die Fingerspitzen über die Buchrücken wandern. Sie waren nach Genre und alphabetisch nach Autor sortiert. Tina fand das idiotisch. Wen interessierte schon wie der Autor eines Buches hieß? Man würde Bücher doch eher nach dem Titel suchen, oder nicht? Sie kannte auf jeden Fall fast keine Buchautoren, dafür aber sehr viele Titel. Aber jedes Mal wenn sie mit ihrem Opa darüber diskutierte lachte er nur und sagte, dass sehr viele Menschen sehr wohl Lieblingsautoren hätten und deshalb gerne alle Bücher davon lesen wollten. Und wenn jemand nur den Titel hatte, konnte er sich ja an ihn wenden, er kenne alle Bücher und dafür sei ein Bibliothekar schließlich da. Außerdem wären dann endlos viele Bücher beim Buchstaben D weil so gut wie die Hälfte der Buchtitel mit „Der, Die oder Das“ anfingen. Und das war leider ein Argument dem Tina nichts entgegen setzen konnte. Es gab wirklich extrem viele Buchtitel die mit einem der drei Artikel begannen.
Tina sperrte die Wohnung auf und ging hinein. Manchmal wusste Tina nicht, was sie mehr liebte, die Bibliothek oder die Wohnung. Hier waren gefühlt fast so viele Bücher wie unten, weil Opa alle Bücher las, bevor er sie in sein Repertoire aufnahm. 
„Ein guter Bibliothekar muss alle seine Bücher kennen, sonst kann er doch nichts empfehlen“, sagte er immer. Und weil ihm manche Bücher eben besonders gut gefielen, kaufte er sie dann nochmal für sich selbst, so hatte er quasi seine eigene Bibliothek in der Wohnung.
„Bücher sind wie Freunde“, sagte er immer wenn Tina fragte warum er die Bücher nochmal kaufte, wenn er sie doch unten in der Bibliothek hatte, „und gute Freunde leiht man ja auch nicht einfach so her, oder?“
Während sie ihr Essen aus dem Kühlschrank holte, dachte sie über ihre Sammlung an „Freunden“ zu Hause nach. Es waren schon einige zusammen gekommen in den letzten Jahren, aber längst noch nicht so viele wie hier in der Wohnung. Mit der Anzahl an echten Freunden sah es dagegen eher schlecht aus. Es war jetzt nicht so, dass sie absolut unbeliebt war, sie lief halt irgendwie so mit. Aber eine wirklich beste Freundin oder sowas hatte sie nicht. Sie hatten einfach nicht die gleichen Interessen. Die anderen Mädchen waren alle total fixiert auf irgendwelche Sänger oder Schauspieler, total lächerlich. Außerdem waren viele aus ihrer Klasse schon fast ein Jahr älter als Tina und fingen langsam alle an sich zu schminken, was Tina noch lächerlicher fand, sah aus als wär das ganze Jahr Fasching. Sie hoffte sie würde nie so werden. Und mit den Jungs konnte man sowieso nicht mehr vernünftig reden, die hatten nur noch ihre bescheuerten Computerspiele im Kopf. Aber niemand interessierte sich für Bücher. Langsam fragte sich Tina, wie sich Kinder- und Jugendbücher überhaupt verkaufen ließen, wenn sie doch scheinbar niemanden interessierten. Auch in der Bibliothek waren es meistens die Eltern die den Kindern die Bücher mitnahmen, ob die überhaupt alle gelesen wurden? Oder gaben die Erwachsenen sie einfach wieder zurück bevor die Frist ablief, egal ob ihre Kinder sie gelesen hatten?
Inzwischen war Tinas Essen warm und sie füllte es in einen Teller um, gerade wollte sie sich zum Tisch setzen, als sie unten im Innenhof jemanden sah. Hatte sie etwa die Tür offen gelassen? Der Innenhof war für Gäste der Bibliothek eigentlich tabu und die Tür mit den „Privat“- Schild immer zu, nur im Sommer fanden hier manchmal Lesungen statt. 
Leise öffnete sie die Haustür und ging hinaus auf den kleinen Balkon vor der Tür. Der Mann schien kein bestimmtes Ziel zu haben, er sah sich nur um.
„Hallo!“, rief Tina zu ihm hinunter, „kann ich Ihnen helfen? Suchen Sie jemanden?“
Der Mann zuckte zusammen und drehte sich zu ihr um. Er hatte blaue etwas verwirrte Augen und braune Haare, die teilweise schon von grauen durchzogen waren. Tina schätzte ihn auf um die vierzig. 
„Tja, eigentlich suche ich ein Buch für meine Tochter, aber die Tür war offen und dieser Innenhof ist ja der Wahnsinn! Wunderschön! Wohnst du hier?“
Verdammt, sie hatte tatsächlich die Tür offen gelassen.
„Nein, aber meinem Opa gehört die Bibliothek und Sie dürfen hier eigentlich nicht rein, deswegen steht auch Privat auf der Tür“, antwortete sie und sah den Mann mit hochgezogenen Augenbrauen an. Auch wenn die Tür offen gewesen war, hieß das ja nicht automatisch dass man durchgehen musste. Und Angriff war noch immer die beste Verteidigung.
Jetzt sah er ziemlich zerknirscht aus. Volltreffer. Innerlich triumphierend musste sie jetzt doch ein bisschen grinsen und kam die Treppe runter. Eigentlich sah der Mann ziemlich nett aus, und er hatte ja recht, der Innenhof war wirklich wunderschön.
„Wie alt ist Ihre Tochter denn?“, fragte sie ihn freundlich, „Und was liest sie sonst gerne?“
„Tja, wenn ich das wüsste,“ antwortete der Mann, kratzte sich am Hinterkopf und grinste sie verlegen an, „normalerweise nimmt meine Frau die Bücher für Lara mit, aber sie ist krank und jetzt hat sie mich geschickt, meine Frau hat gesagt es ist egal was ich nehme, Hauptsache es kommt irgendwas magisches drin vor. Achja, meine Tochter ist zwölf.“
„Na dann, kommen Sie mal mit“, sagte Tina, bugsierte den Mann sanft Richtung Bibliothek und schloss die Tür zum Innenhof, „Ich glaub da weiß ich was Gutes.“
Wenn diese Lara noch nicht lange zwölf war, hatte sie vielleicht Percy Jackson noch nicht gelesen, und da kam definitiv viel magisches drin vor. Und lustig waren die Bücher auch noch. Tina hatte alle fünf Bände schon gelesen und gerade mit Helden des Olymp angefangen, der Folgereihe. Aber falls diese Lara schon mit der Reihe angefangen hatte, wärs natürlich blöd wenn sie ihm die Bücher nocheinmal mitgeben würde. 
„Haben Sie einen Bibliotheksausweis? Oder Ihre Frau?“, fragte Sie den Mann. Jeder der ein Buch ausborgte brauchte einen Ausweis, und die Bücher hatten innen einen Code. Und wenn man sich ein Buch ausborge scannte ihr Opa den Code, damit er immer wusste wo seine Bücher waren auch wenn jemand die Rückgabefrist überschritten hatte.
„Meine Frau, wahrscheinlich“, sagte der Mann und grinste sie wieder zerknirscht an, „aber den hab ich nicht dabei, ist das schlimm?“
„Weiß nicht“, antwortet Tina, „Da müssen wir Opa fragen.“
Inzwischen waren sie vorne bei den Kinder- und Jugendbüchern angekommen und tatsächlich- Percy Jackson – Diebe im Olymp, der erste Band der Reihe war da. Tina zog das Buch heraus und ging damit zur Theke. 
„Opa, der Mann möchte für seine Tochter ein Buch ausborgen und ich hätte ihm Percy Jackson empfohlen, sie ist zwölf. Aber er weiß nicht, ob sie das schon gelesen hat, normalerweise holt seine Frau die Bücher. Kannst du das wo nachschauen? Er hat auch keinen Ausweis, aber seine Frau schon.“
Tina legte das Buch auf die Theke und sah ihren Opa fragend an. Der sah erst von ihr zu dem Mann und wieder zurück.
„Wie heißt denn Ihre Frau?“, fragte er dann und nahm das Buch.
„Ähm, Linda. Linda Seeberger“, antwortete er.
Abrupt drehte Tina sich zu dem Mann um.
„Dann ist Ihre Tochter Lara Seeberger? Die aufs Stadtgymnasium geht, in der 3b?“, fragte sie ihn ungläubig.
„Ähm, ja. Kennst du sie denn?“, fragte der Mann und musterte sie jetzt etwas genauer.
„Wir gehen in die gleiche Klasse, ich bin Tina Altmann“, antwortete sie und konnte es immer noch nicht glauben. Lara war nur ein paar Wochen älter als sie, hatte sich aber bereits den sich-schminkenden, Sänger-verehrenden Tussis angeschlossen. Und ausgerechnet sie sollte auf Fantasy-Bücher stehen? Das passte ja mal überhaupt nicht zusammen.
„Ahja, da haben wirs“, sagte Opa, der inzwischen das Konto von Laras Mutter herausgesucht hatte, „Nein Percy Jackson war noch nicht dabei. Würd aber so wies aussieht gut passen, das mit dem Ausweis ist nicht so tragisch, ich kanns auch so auf das Konto Ihrer Frau buchen.“
Sichtlich erleichtert atmete der Mann aus und nahm das Buch entgegen.
„Vielen Dank, sonst hätte ich mich heute nicht mehr zu Hause blicken lassen dürfen“, lachte er und ging zur Tür, „Dir auch vielen Dank für deinen Rat, Tina“, und schon war er draußen.
„Gute Arbeit, Tina“, sagte Opa und zwinkerte ihr zu, „muss ich mir Sorgen um meinen Posten machen?“
„Höchstens bei den Kinder- und Jugendbüchern“, gab sie zurück und grinste ihn an, dann wurde ihr Blick wieder ernst, „ich wusste gar nicht, dass Lara auch gerne liest. Ich hab gedacht sie ist einfach wie die anderen Tussis.“
„Tja, weißt du meine Liebe, Menschen sind manchmal auch ein bisschen wie Bücher. Manche sehen von außen ganz anders aus, als sie innen sind. Man darf sie nicht nur nach dem Titel und dem Umschlag einordnen. Und genau wie die Geschichten in Büchern können sie dein Leben beeinflussen, ob sie es wissen oder nicht. Du bist diesem Mann zufällig begegnet, eigentlich hättet ihr euch überhaupt nicht treffen sollen, denn du bist sicher noch nicht mit essen fertig. Und mit deiner Auswahl veränderst du vielleicht Laras Leben, du hast ihr eine neue Geschichte geschenkt, einen neuen Freund. Und wer weiß, vielleicht erzählt ihr ihr Vater ja auch wer ihm dieses Buch empfohlen hat. Vielleicht wusste sie auch nicht, dass es in ihrer Klasse noch jemanden gibt, der gerne liest und sieht dich jetzt ganz anders als vorher. Unsere Geschichten, ob in Büchern oder im echten Leben greifen öfter unabsichtlich ineinander als man meinen möchte, wie ein Uhrwerk. Ein Uhrwerk an Geschichten. Du weißt nie wie sehr du das Leben eines anderen beeinflusst, ob absichtlich oder rein zufällig“, er wuschelte ihre Haare und lächelte sie aus seinen tiefgründigen Augen an, „Und jetzt geh und iss deine Nudeln. Und vergiss nicht, die Tür zum Innenhof zu schließen.“


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